Im frühen Christentum gab es eine riesige Vielfalt an Texten – Evangelien, Briefe, Prophezeiungen – die alle von verschiedenen Gruppen genutzt wurden. Doch wie kam es eigentlich dazu, dass aus all diesen Schriften der heutige Kanon des Neuen Testaments entstand? Warum stehen zum Beispiel vier Evangelien in der Bibel, obwohl es viel mehr gab? Und wer hat entschieden, welche Texte "gültig" sind?
Nach Jesu Tod verbreiteten sich seine Botschaft und die Geschichten über ihn durch mündliche Erzählungen. Erst später wurden sie aufgeschrieben. Neben den bekannten vier Evangelien – Matthäus, Markus, Lukas und Johannes – gab es viele andere, wie das Evangelium nach Thomas oder das Evangelium der Maria Magdalena. Manche dieser Texte erzählten ganz andere Geschichten über Jesus, die oft von den Ideen der frühen Kirche abwichen.
Zusätzlich zu den Evangelien gab es Briefe von Aposteln wie Paulus, Petrus oder Johannes, die für die Gemeinden geschrieben wurden. Diese Briefe waren oft praktische Anleitungen für den Glauben und das Zusammenleben der Christ:innen. Und dann gab es noch prophetische Texte wie die Offenbarung des Johannes, die Einblicke in das Ende der Welt geben sollten.
Im 2. und 3. Jahrhundert begannen die frühen Kirchenleiter (später "Kirchenväter" genannt), sich Gedanken darüber zu machen, welche Texte verbindlich sein sollten. Der Grund war, dass immer wieder Streit darüber ausbrach, welche Schriften "richtig" waren. Manche Gruppen hatten nur ein Evangelium, andere dutzende. Diese Uneinigkeit sorgte für Chaos.
Ein wichtiges Kriterium für die Auswahl war, ob ein Text wirklich von einem Apostel oder einer Apostelschülerin stammte. Auch musste der Inhalt mit dem übereinstimmen, was die Mehrheit der Christ:innen damals glaubte. Texte, die zu exotisch oder zu abweichend waren – wie das Evangelium nach Thomas – wurden ausgeschlossen. Die Schriften sollten außerdem in allen Gemeinden genutzt werden können, nicht nur in einer bestimmten Gruppe.
Die Kirchenväter spielten eine große Rolle bei der Kanonisierung. Namen wie Irenäus, Origenes oder Tertullian tauchen hier auf. Sie versuchten, Ordnung in die Vielfalt zu bringen, indem sie Listen mit "gültigen" Schriften erstellten. Diese Listen waren allerdings nicht einheitlich. Erst im Jahr 367 schrieb der Bischof Athanasius von Alexandria zum ersten Mal eine Liste, die genau die 27 Bücher enthielt, die heute das Neue Testament bilden.
Viele Texte schafften es nicht in den Kanon, weil sie als "apokryph" – also verborgen oder zweifelhaft – galten. Das bedeutete nicht immer, dass sie schlecht waren, sondern dass sie einfach nicht zu den Vorstellungen der Kirche passten. Zum Beispiel stellt das Evangelium nach Thomas Jesus eher als Weisheitslehrer dar und weniger als den Sohn Gottes. Das passte nicht zu dem Bild, das die Kirche von Jesus verbreiten wollte.
Die Auswahl der Texte im Neuen Testament war also kein zufälliger Prozess, sondern eine bewusste Entscheidung der frühen Kirche. Das zeigt, dass die Bibel, wie wir sie kennen, nicht "vom Himmel gefallen" ist, sondern das Ergebnis von Diskussionen und Machtkämpfen war. Die Frage, welche Texte man als "wahr" oder "wichtig" ansieht, hängt immer davon ab, wer diese Entscheidungen trifft – und warum.
Wenn du die Bibel liest, kannst du also ruhig auch mal kritisch nachfragen: Warum stehen diese Geschichten hier – und andere nicht? Es gibt viele spannende Texte, die nicht im Kanon gelandet sind, aber trotzdem etwas über die frühen Christ:innen und ihren Glauben verraten.