Auf dieses ziemlich spannende Thema bin ich durch einen Leserbrief gestoßen worden, in welchem mir implizit unterstellt wurde, ich würde Theologen wie Steindl-Rast et al. Lügen strafen, wenn ich die Existenz Gottes infrage stellte.
Ein berechtigter Verweis auf ein – wie ich finde – spannendes Thema. Es ist auf unseren Seiten viel von den christlichen Mythen die Rede. Was aber ist mit den Mystikern? Über die Dauer des Christentums treten ja immer wieder Mystiker auf, die von sich sagen, ein mystisches Erlebnis, eine Erleuchtung o.ä. habe sie zum Glauben geführt.
Muss man die Existenz Gottes aufgrund solchen Mystizismus‘ akzeptieren?
Nun - mystische Erfahrungen sind ein faszinierendes Phänomen, das in fast allen religiösen und spirituellen Traditionen auftritt. Sie werden oft als direkte, unmittelbare Erfahrungen einer höheren Wirklichkeit beschrieben – sei es Gott, das Universum, das Absolute. Sie können sich auf jede Art von Ekstase oder verändertem Bewusstseinszustand beziehen, dem eine religiöse oder spirituelle Bedeutung zugeschrieben wird. Mystische Erfahrungen können sich jedoch auch auf das Erlangen von Einsichten in ultimative oder verborgene Wahrheiten und auf die menschliche Transformation beziehen, die durch verschiedene Praktiken und Erfahrungen unterstützt wird.
Viele „moderne“ Mystiker verschmelzen zudem verschiedene religiöse Traditionen. „Cross-Over-Theologen“ wie Anselm Grün, Willigis Jäger und David Steindl-Rast betonen oft, dass sie die
persönliche spirituelle Erfahrung über dogmatische Glaubensinhalte stellen.
Adolf Holl geht noch weiter und sieht Mystik als etwas Universelles, das auch Atheisten erleben können.
Es ist denkbar, dass Jesus von Nazareth und Sha'ul von Tarsus mystische Erfahrungen hatten. Paulus' „Bekehrung“ auf dem Weg nach Damaskus erinnerte an eine temporallappen-induzierte Vision, und Jesu „Einheit mit dem Vater“ könnte Ausdruck einer ekstatischen Erfahrung sein. Aber selbst, wenn das nicht so war, folgt daraus nicht, dass ihre Lehren auf einer objektiven Wahrheit beruhen.
Ich stelle daher in Zweifel, dass man aus mystischen Erfahrungen zwangsläufig die Existenz Gottes ableiten kann.
Aber betrachten wir den Mystizismus noch ein bisschen näher – ohne allzu tief in das Thema einzusteigen:
Die Neurowissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten intensiv untersucht, was während mystischer Zustände im Gehirn geschieht. Experimente mit Meditation, Drogen (z. B. Psilocybin[i]), transzendentalen Zuständen oder Nahtoderfahrungen zeigen, dass Gehirnareale, insbesondere das Temporallappen-System[ii] und das Default Mode Network[iii], eine bestimmte Rolle spielen. Diese Zustände sind auch erklärbar, ohne eine übernatürliche Ursache annehmen zu müssen.
[i] Psilocybin ist ein psychoaktives Indolalkaloid, welches in psilocybinhaltigen Pilzen vorkommt. Der Konsum von Psilocybin führt zu einem psychedelischen Rausch mit visuellen Halluzinationen. Weitere Informationen auch hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Psilocybinhaltige_Pilze
[ii] Der Temporallappen, auch Schläfenlappen genannt, ist ein Teil des Großhirns. Er ist für verschiedene Funktionen zuständig, darunter das Hören, Sehen, Sprachverständnis, Gedächtnis und Emotionen.
[iii] Das Default Mode Network (DMN) wird im Deutschen als Ruhezustandsnetzwerk bezeichnet. Es ist eine Gruppe von Gehirnbereichen, die aktiv werden, wenn der Mensch nicht aktiv ist.
Mystische Erfahrungen sind oft begleitet von tiefen Glücksgefühlen, einem Gefühl der Einheit mit allem und der Auflösung des Egos. Menschen deuten diese Erlebnisse in demjenigen kulturellen Kontext, der ihnen vertraut ist. Ein Christ sieht darin eine Begegnung mit Gott oder Jesus, ein Hindu erkennt Krishna oder Brahman, ein Buddhist erfährt Erleuchtung. Dieselben neurologischen Mechanismen führen zu völlig unterschiedlichen Interpretationen.
Selbst wenn die Erlebnisse für die Betroffenen real sind, heißt das nicht, dass sie objektiv existieren. Optische Illusionen oder Halluzinationen sind ebenfalls völlig real, aber wir wissen, dass sie als Produkte des Gehirns erscheinen. Die Mystik ist damit ein starkes subjektives Erleben, aber kein Beweis für eine metaphysische Realität.
Mystische Erfahrungen sind reale psychische Phänomene, die tiefgreifende Auswirkungen auf Menschen haben können. Doch sie liefern keinen objektiven Beweis für Gott oder eine metaphysische Wirklichkeit. Sie sind ein faszinierender Ausdruck der Funktionsweise des menschlichen Gehirns – ein natürlicher Prozess, den Menschen in einen übernatürlichen Kontext stellen. Wer mystische Erlebnisse als Argument für Gott anführt, begeht daher einen Kategorienfehler: Ein subjektives Gefühl wird zur objektiven Wahrheit erhoben.