Man kennt sie, diese Alltagsfloskeln: „Das war aber nicht sehr christlich von dir!“ – und schon hat das Adjektiv seinen Auftritt. Meist dann, wenn jemand beim Bäcker vordrängelt, im Straßenverkehr den Mittelfinger zeigt oder ein anderes moralisches Eigentor schießt.
Fragt man zehn Leute, bekommt man zwölf Antworten. Die einen meinen damit Nächstenliebe, die anderen Ehe zwischen Mann und Frau. Manche verstehen darunter Feindesliebe, andere ein starkes Militär und Sonntagsreden mit Bibelversen. Wieder andere werfen mit dem Begriff um sich wie mit einem Gütesiegel: Made in Heaven, garantiert wertkonservativ, autorisiert von oben.
Historisch betrachtet war „christlich“ nie ein rein moralischer Begriff, sondern immer auch ein politischer. Die „christlichen Parteien“ etwa standen nicht unbedingt für Wasser zu Wein, sondern eher für Wirtschaft zu Wahlprogramm. Und die Kreuzzüge? Waren selbstverständlich auch christlich – ebenso wie die Inquisition, die Hexenverfolgung und das Verbot von Tanzveranstaltungen in der Karwoche.
Heute ist das Adjektiv „christlich“ vor allem eins: dehnbar wie ein mittelalterlicher Bußgürtel. Es taugt als Etikett für alles Mögliche – von Nächstenliebe bis Nationalkonservatismus, von Mitgefühl bis Mission, von Mildtätigkeit bis Meinungskampf. Ein Wieselwort, das sich mühelos durch jede moralische Lücke windet.
Vielleicht sollten wir das Wort zur Ruhe betten. Oder ihm zumindest eine Kur verpassen. Etwa im Wörterbuch unter „verbraucht“. Denn wer heute wirklich christlich sein will – sollte vielleicht erstmal klären, was er oder sie damit meint.