Ich heiße Mirjam, so nannte mich meine Mutter. In Euren Schriften heiße ich Maria, so nannten mich Menschen, die Griechisch sprachen.
Es ist derselbe Name! Nicht eine spätere Umbenennung, nicht ein Mysterium, nicht ein verborgenes Inkognito. Nur ein Sprachwechsel – nichts weiter.
In Eurer Bibel und in später hinzugesichteten Legenden wird alles Mögliche über mich berichtet. Doch wenn Ihr jeden Mystizismus aus Euren Erzählungen streicht, bleibe lediglich ICH übrig: eine Frau und Mutter, wie viele Tausend andere Frauen und Mütter in Galiläa.
Weil Ihr aber gar so viele Märchen über mich in Umlauf gebracht habt, möchte ich ein paar davon richtigstellen:
Ich war dabei, als mein ältester Sohn hingerichtet wurde. – Viele Mütter waren dabei, als deren Kinder am römischen Kreuz endeten. Die Politik Roms war brutal, und sie machte keine Ausnahmen.
Ob ich wirklich alles sah, was in Euren Evangelien steht – Nägel, Lanzen, Worte und Zeichen? Ich weiß es nicht mehr. Manche Erinnerungen sind Schmerz, andere spätere Ausschmückung. Man hat vieles hinzugefügt, um Bedeutung zu erzeugen. Kreuzigungen waren grausam genug ohne jede Dramatik.
Aber eines weiß ich:
Ich habe ihn sterben sehen.
Nicht „sterben und leben“.
Jedenfalls nicht in einem biologischen Sinn, sondern nur in dem Sinn, wie Bewegungen entstehen, Hoffnungen wachsen oder Geschichten erzählt werden.
Ja, er war anders. Intelligent, eigensinnig, charismatisch, manchmal schwer zu fassen.
Aber ich glaube nicht, dass irgendeine Mutter im alten Judäa von ihren Kindern sagte: „Er ist der einzige Mensch dieser Art, der je gelebt hat.“
Das ist das Werk späterer Verehrer, nicht der nüchterne Blick einer Frau, die kochte, wusch, erzog und sorgte.
Ob auf jener Hochzeit der Wein ausging oder nicht – solche Dinge passierten oft.
Was in Euren Schriften ein Wunder ist, war in unserer Erinnerung vielleicht ein Wortspiel, eine Lebensweisheit, ein Zwischenruf eines eigenwilligen jungen Mannes.
Wenn Ihr mehr wissen wollt, dann lest hier:
Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn je drei Tage lang verloren zu haben.
Aber ich erinnere mich gut an seine Art: nachdenklich, manchmal fordernd, immer wissbegierig.
Die Episode, wie Ihr sie kennt – ein Kind, das die Lehrer Jerusalems übertrifft – ist keine Familienanekdote. Es ist eine didaktische Erzählung, wie sie im Judentum häufig ist: Sie sagt etwas über die Bedeutung, nicht über die Historie.
Ich war jung, als ich Josef kennenlernte. Ich war schwanger, als ich zu ihm kam. Ob von ihm oder von einem früheren Galan? Egal, er nahm mich trotzdem auf. - Das ist alles.
Keine Geschichten von Engeln, von Botschaften übernatürlicher Herkunft. Nichts von einem „Heiligen Geist“, der mich überschattet habe. – Das alles sind spätere Versuche, meinen Sohnes metaphysisch erscheinen zu lassen und seine Besonderheiten erklärbar zu machen, ohne auf natürliche Umstände zurückzugreifen.
Ich habe alle meine Kinder in Nazareth geboren, auch Jesus, meinen ältesten Sohn.
Bethlehem? Das ist eine Ortsidee, geboren aus einer Schriftstelle und der Sehnsucht, den Messias aus Davids Stadt kommen zu lassen. Ich war nie in einem Stall. Ich weiß nichts von Hirten, Sternen,
Magiern.
Das ist Poesie. Schöne Poesie – aber Poesie bleibt Poesie.
Ich bin keine „Begnadete“. Ich bin keine „Gottesgebärerin“, keine „Mutter der Kirche“, keine „Himmelskönigin“.
Ich war eine Frau, die ein Kind zur Welt gebracht hat.
Alle Titel, die Ihr mir gegeben habt, sind nachträgliche Ehrungen einer religiösen Bewegung, die sich legitimieren wollte.
Was Ihr Engel nennt, heißt in der Tradition meines Volkes oft:
Ein starkes Wort. Eine innere Regung. Eine theologische Deutung.
Aber Engel, die sichtbar erscheinen, Botschaften verkünden, Himmelstore öffnen?
Das ist Legendenstoff. Kein Ereignis meiner Biographie. – Und wenn Ihr mehr darüber wissen wollt, wie diese Legenden zu interpretieren sind, dann lest doch einfach dort:
Ich bin Mirjam – eine jüdische Mutter, deren Sohn, ein Wanderprediger, zum Hoffnungsträger einer Reformbewegung wurde. Die wurde später – ganz gegen seinen Willen – zu einer Religion, die bald ein Weltreich an dogmatischen Treuebezeugungen sammelte.
Man hat mein Leben ausgeschmückt, um die Bedeutung meines Sohnes zu erhöhen.
Man hat mir Worte in den Mund gelegt, Erlebnisse zugedichtet, Visionen erfunden, Titel verliehen.
Wenn Ihr mich fragt, was von meinem Leben bleibt, wenn man alle Mythen abzieht, dann sage ich: