Stell dir vor, du lebst in einem Land, das nicht wirklich frei ist. Zur Zeit von Jesu Geburt war Israel von den Römern besetzt. Die Römer waren eine große Weltmacht, die viele Gebiete erobert hatte, darunter auch das Land der Juden. Israel war in dieser Zeit kein unabhängiges Königreich mehr, sondern eine Provinz des Römischen Reiches. An der Spitze stand der Kaiser in Rom, und in Israel regierte ein römischer Statthalter. Zur Zeit von Jesu Geburt hatten die Römer zudem Herodes den Großen als König eingesetzt, einen Herrscher, der zwar jüdischen Glaubens war, aber weitgehend im Interesse Roms regierte. Nach seinem Tod zerfiel sein Reich, und die Römer teilten es unter seinen Söhnen auf.
Herodes war zwar offiziell ein Jude, aber viele Menschen misstrauten ihm, weil er mit den Römern zusammenarbeitete. Er war bekannt für seine Grausamkeit und baute riesige Paläste und Tempel, um die Römer zu beeindrucken und seine Macht zu sichern. Gleichzeitig waren die Menschen in Israel tief religiös und warteten auf einen Befreier, den sogenannten Messias, der sie von der römischen Unterdrückung befreien sollte. Diese Erwartungen prägten die Zeit, in der Jesus geboren wurde.
Die Wahrheit ist: Wir wissen nicht besonders viel über das Leben von Jesus, und viele Geschichten in der Bibel sind nicht als historische Berichte zu verstehen. Die wichtigsten Quellen über Jesus sind die vier Evangelien im Neuen Testament – Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Aber diese Texte wurden erst Jahrzehnte nach seinem Tod geschrieben, und sie enthalten viele Widersprüche und Erzählungen, die übertrieben oder mythisch sind.
Außerhalb der Bibel gibt es nur sehr wenige Berichte über Jesus. Einige römische und jüdische Historiker wie Flavius Josephus und Tacitus erwähnen ihn, aber nur kurz. Diese Berichte bestätigen, dass Jesus wirklich gelebt hat und am Kreuz hingerichtet wurde, aber sie geben keine Details über sein Leben oder seine Lehren. Historiker gehen davon aus, dass die Evangelien mit Vorsicht gelesen werden müssen, weil sie vor allem Glaubenstexte sind und keine neutralen Geschichtsbücher. Außerdem wurden sie erst viele Jahre nach dem Tod von Jesus geschrieben.
Jesus wurde wahrscheinlich um das Jahr 4 v. Chr. in einer kleinen Stadt namens Nazareth geboren. Die bekannte Geschichte von der Krippe in Bethlehem ist ein nachträglicher Mythos, der Jesus mit der alten Prophezeiung eines Messias aus der Stadt Davids verbinden sollte. Seine Familie war arm, und Jesus wuchs als einfacher Handwerker auf – vermutlich als Zimmermann.
Im Erwachsenenalter begann Jesus, als Wanderprediger durch das Land zu ziehen. Er sprach vor allem zu einfachen Menschen – Bauern, Fischern und Arbeitern – und wurde schnell bekannt für seine Botschaft von Nächstenliebe und Gerechtigkeit. Viele Menschen folgten ihm, weil er Hoffnung gab und sich gegen die herrschenden Eliten stellte.
Die Lehre von Jesus war radikal, vor allem in der damaligen Zeit. Er predigte, dass alle Menschen gleichwertig sind, egal ob arm oder reich, Mann oder Frau. Er forderte dazu auf, Feinde zu lieben, Gewalt zu vermeiden und anderen zu vergeben. Besonders wichtig war ihm die Hilfe für die Schwachen – für Arme, Kranke und Ausgestoßene.
Um die Lehre von Jesus von Nazareth besser zu verstehen, muss man sich auch mit Johannes dem Täufer beschäftigen. Ohne ihn wäre Jesus vermutlich nie zum Prediger geworden. Johannes war eine zentrale Figur seiner Zeit – ein charismatischer Wanderprediger, der in der Wüste lebte und eine radikale Umkehr predigte. Seine Botschaft war klar: Die Menschen müssten sich auf das kommende „Reich Gottes“ vorbereiten, denn das Ende der Welt sei nah. Er fordert sie auf, Buße zu tun und ihre Sünden durch eine symbolische Reinigung im Wasser des Jordan zu bereuen – die sogenannte Taufe.
Johannes' Bewegung war keine Randerscheinung. Seine Botschaft trifft die Nerven vieler Menschen, die unter der römischen Besatzung litten und auf eine göttliche Befreiung hofften. Seine Kritik richtete sich jedoch nicht nur gegen die Römer, sondern auch gegen die jüdischen Eliten im Tempel von Jerusalem, die er für heuchlerisch und korrupt hielt. Er sah die moralische Erneuerung des Volkes als den einzigen Weg, Gottes Gericht zu überstehen.
Jesus war zunächst ein Anhänger von Johannes dem Täufer. Nach allem, was wir wissen, ließ er sich selbst von Johannes taufen. Dies deutet darauf hin, dass Jesus die Botschaft von Johannes ernst nahm und möglicherweise von ihm inspiriert wurde. Für Jesus war die Taufe wohl ein Wendepunkt in seinem Leben, nach dem er selbst als Prediger aktiv wurde.
Die beiden Bewegungen – also die von Johannes und die von Jesus – unterschieden sich jedoch in einem wichtigen Punkt:
Während Johannes eher als Prophet des Untergangs gesehen werden kann, trat Jesus als Botschafter der Barmherzigkeit auf.
Johannes starb, bevor Jesus seine Mission vollständig entfalten konnte. Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus berichtet, dass Johannes von Herodes Antipas, dem Herrscher über Galiläa
und Peräa, hingerichtet wurde. Herodes sah in Johannes eine Gefahr, weil er so viele Anhänger um sich scharte und seine Botschaft Unruhe stiften konnte.
In den Evangelien [Mk 6:17–29; Mt 14:3–12 ] wird erzählt, dass Johannes nach einer Intrige im Palast von Herodes enthauptet wurde… angeblich auf Wunsch von Herodes' Stieftochter.
Johannes' Tod hatte große Auswirkungen auf die Jesusbewegung: Viele Johannes-Anhänger könnten später zu Jesus übergelaufen sein, da sie in ihm einen Fortsetzer der Bewegung sahen. Und Jesus selbst nahm möglicherweise auch die Richtung seines einstigen Mentors als Warnung: Das Predigen einer radikalen Botschaft war gefährlich in einer politisch angespannten Zeit.
Was viele nicht wissen: Jesus sah sich nicht als Begründer einer neuen Religion. Er war Jude und blieb es sein Leben lang. Seine Lehre war vor allem eine Kritik an der damaligen jüdischen Priesterschaft, die er für korrupt hielt. Jesus wollte, dass die Menschen zu einem einfachen, ehrlichen Glauben zurückkehren. Später, nach seinem Tod, wurden seine Ideen von anderen übernommen und verändert – besonders von Paulus, der das Christentum, wie wir es heute kennen, geformt hat. Doch Paulus' Lehren haben nur noch wenig mit dem zu tun, was Jesus wirklich predigte.
Die Botschaft von Jesus war für die römischen Herrscher und die jüdischen Priester gefährlich. Sie sahen ihn als Aufständischen, der die Ordnung bedrohte. Deshalb wurde Jesus verhaftet, vermutlich auf Betreiben der jüdischen Obrigkeit, die ihn als Gotteslästerer ansah. Die römischen Behörden, unter der Leitung des Statthalters Pontius Pilatus, verurteilten ihn zum Tod am Kreuz – einer Strafe, die für Aufständische und Schwerverbrecher reserviert war.
Jesus starb an einem Freitag – das wissen wir aus den Evangelien. Wahrscheinlich war dies im Jahr 30 oder 33 n. Chr. Seine Anhänger waren verzweifelt und versteckten sich aus Angst vor Verfolgung. Doch bald danach verbreitete sich die Botschaft, dass Jesus auferstanden sei – eine Idee, die die Grundlage für die spätere christliche Religion wurde. Die genauen Umstände seines Todes und was danach geschah, sind allerdings bis heute ein großes Rätsel.
Soweit der Überblick, um die historische Figur Jesus von Nazareth besser verstehen zu können. Seine (im Kern übrigens pharisäische) Botschaft von Gerechtigkeit und Nächstenliebe hat viele Menschen inspiriert, aber vieles, was wir heute über ihn wissen, wurde erst später hinzugefügt oder überinterpretiert. Die wahre Geschichte von Jesus ist oft einfacher – aber deshalb nicht weniger faszinierend.