Wer sich einmal auf eine Diskussion z.B. mit überzeugten Neuapostolischen Christen oder Mitgliedern evangelikaler Gruppen eingelassen hat, kennt das Gefühl: Man bringt ein gutes Argument, belegt es mit Fakten – und stößt auf eine Wand an der jedes Argument abperlt.
Plötzlich heißt es:
„Gottes Weisheit ist so viel größer als alle menschliche Vernunft.“
„Der Mensch kann Gottes Pläne nicht verstehen.“
„Was du sagst, ist für Gläubige nicht relevant.“
So wird jede sachliche Diskussion abgeblockt. Für Zweifel bleibt kein Platz. Kritik ist gleich Unglaube. Und der ist in diesen Kreisen das Schlimmste überhaupt.
Mir selbst ist es sogar geschehen, dass ich als „Ausgeburt der Hölle“ bezeichnet wurde. Man müsse dem Schlangen den Kopf zertreten, hieß es auf einer NAK-Plattform. Und dieses perverse Denken ist aus Sicht eines Christens normal und folgerichtig:
Wer wissenschaftlich denkt, wird dämonisiert – selbst dann, wenn er nur Fragen stellt. Wer aufklärend wirken will, gilt als Gefahr.
Warum ist das so? Und warum ist das im Judentum oft ganz anders?
Philosophie ist die Kunst des Fragens. Sie untersucht:
Philosophie stellt nie etwas als „heilig“ oder „unantastbar“ hin – Nich einmal sich selbst! Alles darf hinterfragt werden. Selbst die Frage, ob es überhaupt einen Gott gibt. Philosophen denken kritisch, logisch und wollen die Welt verstehen, nicht einfach nur glauben.
Theologie dagegen ist die „Lehre von Gott“. Sie beginnt meist mit einer behaupteten Prämisse, einem festen Glaubenssatz – zum Beispiel: „Gott existiert und hat einen
Plan.“
Auf dieser Grundlage wird dann weitergedacht – aber eben nur im Rahmen dieses Glaubens. Wer daran rüttelt, verlässt aus theologischer Sicht den „richtigen Weg“.
Mit einem Bild gesagt:
Jetzt wird’s spannend: Im Judentum, von dem sich das Christentum unter Paulus abgespaltet hat, ist Streit nicht verboten – sondern fast Pflicht! In traditionellen Talmudschulen sitzen Lernende stundenlang zusammen und streiten über heilige Texte. Sie diskutieren, widersprechen einander, suchen neue Deutungen. Selbst Gott darf (vorsichtig) hinterfragt werden.
Ein berühmtes jüdisches Sprichwort lautet:
„Wo zwei Juden sind, gibt es drei Meinungen.“
Das klingt lustig – ist aber ein Ausdruck von echter geistiger Freiheit. Glaube und Denken schließen sich im Judentum nicht aus. Man darf argumentieren, zweifeln, neu denken. Das kennen wir auch aus den wenigen authentischen Überlieferungen zu Jesus von Nazareth. Als Pharisäer unter Pharisäern hat er gerne auf Augenhöhe mit ihnen diskutiert. Durch die antipharisäische Position des Paulus wurden diese Debatten in den Evanglien verzerrt dargestellt. Wer man sich aber mit dem Pharisäertum befasst, wird schnell merken, dass die angeblich den Pharisäern widersprechenden Äußerungen Jesus‘ 1:1 pharisäischer Lesart entsprechen.
Wer das nicht glauben mag, kann zum Schauen kommen: Die Arbeiten des Talmudgelehrten Hyam Maccoby helfen weiter:
Jedenfalls waren viele jüdische Gelehrte zugleich große Philosophen. Glaube und Vernunft müssen sich nicht bekämpfen – sie können miteinander ringen.
Ich erinnere nur an Philon von Alexandria, einem Zeitgenossen Jesus und der ersten Anhänger des Weges. Er versucht, die jüdische Lehre mit der griechischen Philosophie, insbesondere dem Platonismus,
zu verbinden. Auf ihn geht die Lehre von der Logik und dem Logos als Mittler zwischen Gott und der Welt zurück, die eine große Rolle auch bei den Arbeiten des Augustinus von Hippo spielten.
Aber auch bei einigen der bekanntesten Philosophen der Neuzeit spielt deren jüdische Herkunft eine große Rolle. Man denke nur an Wilhelm Jerusalem, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Günther Anders, Siegfried Kracauer…
Im Christentum ist das anders gelaufen. Vor allem in der Spätantike und im Mittelalter wurde alles, was nicht zur offiziellen Lehre passte, als „Häresie“ (Irrlehre) verfolgt. Die Kirche beanspruchte für sich, im Besitz der Wahrheit zu sein – Zweifel daran galt als gefährlich. Viele Philosophen wurden verfolgt, eingesperrt oder verbrannt.
Besonders prägend war dabei der Apostel Paulus. Und das, obwohl er als säkularer Jude in Tarsus, der Hauptstadt Kilikiens aufwuchs – also in einem bedeutenden Zentrum stoischer Philosophie. Tarsus galt als Ort, an dem griechische Philosophie, jüdische Tradition und römische Kultur aufeinandertrafen, was eine besondere Atmosphäre für philosophische Diskussionen und Reflexionen schuf.
Im Corpus Paulinum ist deutlich zu erkennen, dass Paulus durchaus von den Lehren der Stoa beeinflusst war. Seine Schriften und sein Denken zeigen deutliche Spuren der stoischen Lehren. Seine
Betonung von Tugend, Selbstbeherrschung und der Akzeptanz des Schicksals spiegelt die stoische Ethik wider.
Dennoch hat er sich entschieden, nicht mit Vernunft, sondern mit Glaubensgewissheit zu predigen. In seinen Briefen schreibt er sinngemäß:
„Die Weisheit der Welt ist Torheit vor Gott.“
„Glaubt – oder geht verloren.“
Er hat also Vernunft und Wissenschaft gegenüber dem Glauben abgewertet. Und das prägt das Christentum bis heute.
Wie konnte es dazu kommen? Möglicherweise deshalb, weil Paulus in Athen (am Areopag) mit seiner Botschaft scheiterte. Die Philosophen hörten ihn zwar höflich an – aber sie glaubten ihm nicht.
Obwohl Lukas das in den biografischen Schriften zu Paulus etwas verwaschen darstellt, lässt sich erkennen, dass die Philosophen über Paulus, den Theologen, lachten. – Zwar fand er eine Handvoll Nachfolger, doch müssen seine Missionierungsversuche in Athen als gescheitert betrachtet werden. Es kam dort nie zu einer Gemeindebildung
Vielleicht war das der Moment, in dem Paulus sich entschied, nicht mehr auf Argumente, sondern auf den „heiligen Geist“ zu setzen ?♂️
Wenn heute ein gläubiger Christ und ein logisch denkender Mensch über Religion streiten, passiert oft Folgendes:
Das ist so, als würden zwei Menschen Schach spielen wollen – aber einer spielt nach den Schachregeln, der andere nach denen von „Mensch ärgere dich nicht“.
Ergebnis: Man kommt nicht zusammen. Es entsteht Frust und es kommt zum Abbruch der Debatte.
Eine Gesellschaft braucht offene Diskussionen. Auch über Glaube, Ethik, Weltanschauung. Wie anders soll es zu einem freien gesellschaftlichen Konsens kommen?
Wenn religiöse Menschen aber rationale Argumente ablehnen und sagen: „Was du sagst, gilt für mich nicht, weil du nicht glaubst“, dann wird Dialog unmöglich. Dann stehen sich Menschen
feindlich gegenüber – anstatt sich gegenseitig zu verstehen oder wenigstens zu respektieren.
Der „Teufel“ (oder eine seine Entsprechungen) ist in vielen Religionen oft der, der Fragen stellt.
Vielleicht war die Schlange im Paradies ja gar nicht böse – sondern einfach die Erste, die fragte:
„Moment mal, ist das wirklich so?“
In diesem Sinne:
Fragen stellen ist kein Fehler. Es ist der erste Schritt zur Freiheit!