Die Vorstellung von der Europäischen Union als „schlafendem Riesen“ ist in der sicherheitspolitischen Debatte längst zu einem festen Bild geworden. Sie bringt das zentrale Paradox Europas auf den Punkt: Auf der einen Seite steht eine gewaltige wirtschaftliche und industrielle Macht, auf der anderen Seite eine zersplitterte, nur begrenzt handlungsfähige militärische Struktur. Doch die geopolitischen Erschütterungen seit 2022 haben begonnen, diesen Riesen zu wecken – und das hat weitreichende Folgen, insbesondere für Russland und den Krieg in der Ukraine.
Die EU verfügt über nahezu 18 Billionen Euro Wirtschaftsleistung und über eine Bevölkerung, die jene Russlands um ein Vielfaches übertrifft. Daraus ließe sich eine militärische Stärke ableiten, die weltweit nur wenige Konkurrenten hätte. Gleichzeitig hemmen zersplitterte Kommandostrukturen, unterschiedliche Ausrüstungen und ein Mangel an gemeinsamer strategischer Kultur die Schlagkraft erheblich.
Über Jahrzehnte genügte es, sich auf den Schutzschirm der USA und die NATO zu verlassen. Erst die Sorge vor einem teilweisen oder völligen Rückzug Washingtons – verstärkt durch Äußerungen Donald Trumps – führte vielen europäischen Regierungen vor Augen, wie riskant diese Abhängigkeit geworden ist.
Die EU hat begonnen, an einer eigenständigen Verteidigungsfähigkeit zu arbeiten. Zu den wichtigsten Schritten gehören:
Aus diesen Entwicklungen ergibt sich ein klarer Zeitrahmen: Die volle Fähigkeit, Truppen schnell und effektiv an die Ostflanke zu verlegen, dürfte erst ab etwa 2027 erreicht sein.
Was aber würde geschehen, wenn die EU heute oder in naher Zukunft mehrere Großverbände an ihrer Ostgrenze zusammenziehen würde – ähnlich wie Russland es vor dem Überfall auf die Ukraine getan hat?
Direkte Folgen für den Krieg in der Ukraine
Indirekte und politische Auswirkungen
Es ist höchste Zeit, dass die EU ihre sicherheitspolitischen Hausaufgaben erledigt. Der Krieg in der Ukraine und die derzeitige Unzuverlässigkeit der USA wirken dabei wie ein Katalysator, der jahrzehntelange Trägheit aufbricht. Verteidigungsausgaben steigen, gemeinschaftliche Rüstungsprojekte werden – endlich – energischer verfolgt, und die Erkenntnis wächst, dass Europas Sicherheit nicht garantiert ist, wenn Europa nicht selbst handelt.
Ja, die Mühlen er europäischen Institutionen mahlen langsam. Doch der Druck ist so hoch wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Das „Erwachen des schlafenden Riesen“ ist nicht nur eine Metapher, sondern eine sicherheitspolitische Notwendigkeit.
Wenn Europa sein Potenzial nutzt, verändert es die strategische Lage fundamental – zum Vorteil der Ukraine, zur Stabilisierung des Kontinents und zur Abschreckung eines revisionistischen Russlands.