Wenn ich heute auf die letzten gut vierzig Jahre deutscher und europäischer Politik zurückblicke, dann sehe ich vor allem eines: verpasste Chancen. Seit dem Ende der Amtszeit von Helmut Schmidt Anfang der 1980er Jahre wurde Deutschland überwiegend von Kanzlern der CDU/CSU regiert – Kohl, Merkel, jetzt wieder ein Unionskanzler –, mit zwei SPD-Intermezzi dazwischen. Man muss die exakten Tage nicht zählen, um festzustellen: Die politische Grundrichtung war über Jahrzehnte christdemokratisch geprägt, mit allen Konsequenzen für Europa, Russland und das transatlantische Verhältnis.
Ich schreibe das nicht als neutraler Beobachter, sondern als jemand, der die ganze Entwicklung, viele Jahre auch als Soldat, miterlebt hat: vom „Kalten“ Krieg über die Euphorie nach 1989 bis zur ernüchternden Gegenwart mit einem neuen Krieg auf europäischem Boden.
Helmut Kohls Ostpolitik, insbesondere im Umgang mit dem zusammenbrechenden Ostblock und mit Gorbatschow, war – so ungern ich es als Kritiker der CDU zugebe – in wesentlichen Punkten erfolgreich. Die deutsche Einheit verlief friedlich, Russland war zumindest für einen historischen Moment eher Partner als Gegner. Das war keine Selbstverständlichkeit.
Ganz anders bewerte ich seine Europapolitik. Kohl war zwar einer der Architekten des Euro und pflegte eine enge persönliche Beziehung zu François Mitterrand. Aber in seinem Denken dominierte das Bild vom „Europa der Vaterländer“: eine Kooperation souveräner Nationalstaaten, die nach außen weiterhin vor allem sich selbst vertreten, allenfalls lose koordiniert durch Brüssel.
Heute fällt uns diese Vorstellung als historischer Fehler auf die Füße. Was wir gebraucht hätten – und heute dringender bräuchten als je – wären Vereinigte Staaten von Europa: eine föderal strukturierte europäische Union mit klaren Zuständigkeiten, einem gemeinsamen Außen- und Sicherheitskurs und einer Exekutive, die das Mandat hat, für 400-plus Millionen Europäer zu sprechen. Stattdessen haben wir eine Europäische Union, die in der Krise von 27 Regierungschefs, 27 Außenministerien und zahllosen Partikularinteressen zerfasert wird.
Ein Schlüsselmoment, an den heute kaum noch jemand denkt, war für mich die Rede Wladimir Putins vor dem Deutschen Bundestag am 25. September 2001. Ich habe sie damals sehr bewusst verfolgt. Im Wortprotokoll findet sich eine Passage, die mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist:
„Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinem Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.“
Damals schien das „gemeinsame europäische Haus“ noch mehr zu sein als eine müde Metapher. Man konnte – zumindest für einen Moment – ernsthaft darüber nachdenken, Russland in eine europäische Sicherheits- und Wirtschaftsordnung einzubinden, statt es als ewigen Gegenspieler zu behandeln.
Ich selbst habe damals die Auffassung vertreten – und stehe grundsätzlich bis heute dazu –, dass wir die Beziehungen zu den USA und zur NATO nicht überbewerten sollten. Es gibt einfache, aber harte geographische Fakten:
Dazu kommt eine symbolische Erinnerung: Wer denkt heute noch daran, dass das Stabsmusikkorps der Bundeswehr auf dem Roten Platz paradiert und musiziert hat? Wir waren einmal an einem Punkt, an dem „deutsch-russische Freundschaft“ nicht nur in Sonntagsreden vorkam, sondern sich in konkreter Kooperation zeigte. Witzbolde sprachen damals von „deutsch-chinesischen Grenzscharmützeln am Ussuri“ – eine flapsige Erinnerung daran, dass Europa, Russland und China physisch denselben eurasischen Raum teilen.
In dieser Phase entwickelte sich zwischen Schröder und Putin eine „Männerfreundschaft“, die – richtig kanalisiert – durchaus zur Grundlage eines stabileren europäischen Sicherheitsarrangements hätte werden können. Ich betone: hätte.
An diesem Punkt beginnt die spekulative Zone – und als Epistemologe bin ich mir der Gefahr bewusst. Trotzdem lohnt der Gedankenversuch:
Was hätte daraus werden können, wenn zunächst Deutschland, dann Europa die ausgestreckte Hand Putins konsequent ergriffen hätten?
Einige mögliche Effekte:
So weit die Hoffnung.
Die Gegenrechnung ist jedoch ebenso zwingend:
Mit anderen Worten:
Ich halte es für denkbar, dass mutigere europäische Ostpolitik in den 2000ern manche Eskalation erschwert oder verzögert hätte. Es wäre aber unredlich, zu behaupten: „Dann hätte es keinen Euromaidan und keinen Angriffskrieg gegen die Ukraine gegeben.“
Man kann – und sollte – sich der Fehler bewusst sein, die Europa und insbesondere Deutschland gemacht haben. Aber man darf sich nicht in die Illusion flüchten, eine einzige andere Weichenstellung hätte den Gang der Geschichte geradlinig in eine friedliche Alternative gelenkt.
Heute erleben wir eine Konstellation, die aus meiner Sicht fast schon lehrbuchhaft zeigt, wohin das Beharren auf nationalstaatlicher Kleinstaaterei führt:
Die EU ist – zusammengenommen – der größte Unterstützer der Ukraine. Gleichzeitig hat sie sich über Jahre in eine fatale Abhängigkeit von russischer Energie und chinesischen Lieferketten begeben. Und immer wenn es um wirklich schmerzhafte Entscheidungen geht, tritt ein Viktor Orbán auf den Plan, blockiert Pakete, fährt nach Moskau und inszeniert sich als „Friedensvermittler“, während er in Wahrheit Keile in die EU treibt.
In einer TV-Runde („Der Internationaler Frühschoppe“) stellte der in Deutschland arbeitende US-Politikwissenschaftler Andrew Denison eine Frage, die mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht:
„Warum benötigen 350 bis 450 Millionen wohlhabende und gemeinsam gut gerüstete Europäer 340 Millionen Amerikaner, um 150 Millionen Russen militärisch unter Kontrolle zu bringen?“
Die nüchterne Antwort lautet: Weil es kein einiges Europa gibt.
Weil es keinen europäischen Präsidenten gibt, der ein klares Mandat hat, in unser aller Namen zu sprechen und zu handeln. Weil wir uns an Einstimmigkeitsregeln festklammern, die faktisch Vetorechte für Kleptokraten-Freunde schaffen.
In dieser Situation liegt eine Versuchung nahe, die ich selbst zeitweise sehr ernsthaft durchdacht habe: eine strategische Abwendung von den USA und eine Hinwendung zu China, um Putin über Pekings Hebelwirkung zur Räson zu bringen.
Gedanklich sieht das verführerisch aus:
Aber sobald man den Gedanken aus der Perspektive der Gegenwart zu Ende denkt, treten die Risiken in den Vordergrund:
„Wandel durch Handel“ klang in den 1970ern und 1990ern wie eine vernünftige Strategie. Heute wissen wir es der Merkel-Politik geschuldet besser:
Gegenüber autoritären Großmächten hat dieser Ansatz bestenfalls begrenzte Wirkung, schlimmstenfalls verstärkt er unsere Abhängigkeit von Systemen, die unsere Werte nicht teilen.
Trotz aller Skepsis glaube ich nicht, dass wir auf ewig im Status quo gefangen sind. Ich halte es nur für unrealistisch, dass wir morgen die „Vereinigten Staaten von Europa“ ausrufen und übermorgen alle Nationalstaaten in einer föderalen Superstruktur aufgehen. Realistischer erscheinen mir Schritte, die de facto in diese Richtung weisen, ohne es gleich so zu nennen:
Ob man dieses Gebilde am Ende „Vereinigte Staaten von Europa“ nennt oder „föderale Union“, ist mir fast egal. Entscheidend wäre, dass Europa endlich politisch das wird, was es ökonomisch und demografisch längst ist: ein Subjekt – nicht nur der Schauplatz – der Geschichte.
Wenn ich diesen Bogen von Gorbatschow und Kohl über Schröder und Putin, von Bundeswehrmusik auf dem Roten Platz bis zu Trump, Orbán und dem russischen Angriffskrieg spanne, dann sehe ich eine Kette von Möglichkeiten, die Europa nur halbherzig genutzt hat – und von Risiken, die es systematisch unterschätzt hat.
Ja, ich ertappe mich manchmal bei Tagträumen: von einem Europa, das seine Abhängigkeit von den USA reduziert, sich nicht von Orbán erpressen lässt, Putin und jeden seiner Nachfolger mit klarer, gemeinsamer Kante begegnet und zugleich selbstbewusst mit China verhandelt, ohne naiv zu sein.
Aber Träume allein helfen nichts. Wenn ich eines aus den letzten Jahrzehnten gelernt habe, dann dies:
Die größten Fehler entstehen nicht aus falschen Ideen, sondern aus der Weigerung, überhaupt welche zu haben – und sie dann konsequent umzusetzen.
Europa mangelt es nicht an klugen Konzepten, Strategiepapiere füllen Regalmeter. Es mangelt an politischem Mut, sich aus der Komfortzone der nationalen Eitelkeiten zu lösen.
Als Zeitzeuge kann ich nur feststellen:
„Wir stehen heute erneut an einem historischen Scheideweg. Ob die nächste Generation in einer selbstbestimmten, geeinten europäischen Föderation leben wird oder in einem zersplitterten, von außen manipulierten Flickenteppich – das entscheiden wir nicht in Sonntagsreden, sondern in den sehr konkreten Entscheidungen der nächsten Jahre.“
Und ja: Man wird ja wohl noch träumen dürfen.
Diesmal aber mit offenen Augen.